Eine immer wieder kehrende Frage ist, ob man bereits im fachgerichtlichen Verfahren vor den Zivilgerichten, vor den Strafgerichten, vor Familiengericht und gar schon gegenüber der zuständigen Behörde auf die Grundrechte hinweisen muss, um die spätere Verfassungsbeschwerde nicht zu gefährden.
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
Dieser Gedanke ist durchaus nachvollziehbar, da die Verfassungsbeschwerde streng subsidiär ist: Sie kommt erst in Frage, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden. „Ausgeschöpft“ bedeutet aber, dass diese Mittel wirklich effektiv genutzt werden. Das bedeutet insbesondere, dass der Rechtsweg in zulässiger Weise beschritten wurde. Außerdem muss der spätere Verfassungsbeschwerdeführer alles unternommen haben, dass die beteiligten Gerichte die Grundrechtsverletzung hätten vermeiden können. Insofern ist es auch naheliegend, dass man die Grundrecht zumindest nennt und ggf. auch ausführt, warum diese verletzt sein sollen.
Man unterscheidet hierbei zwei Arten der Subsidiarität: Formelle Subsidiarität bedeutet, dass alle Rechtsmittel, die das Prozessrecht vorsieht, ausgeschöpft wurde. Materielle Subsidiarität bedeutet, dass auch schon gegenüber diesen Gerichten alles Wichtige vorgetragen wurde.
Die Rechtsanwendung ist dabei, auch im Bereich der Grundrechte, Sache der Fachgerichte. Natürlich ist es sinnvoll, eine Rechtsmittelschrift schon als „kleine Verfassungsbeschwerde“ auszugestalten. Wenn das aber (was in 95 % der Verfahren, die auf meinen Tisch kommen, der Fall ist) nicht passiert, dann ist das nicht per se ein Unzulässigkeitsgrund. Wann Probleme auftreten können, ist aber oft sehr einzelfallabhängig und nicht allgemein zu beantworten.
Auf jeden Fall Tatsachenvortrag notwendig
Sicher ist, dass alle der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Tatsachen im instanzgerichtlichen Verfahren auch prozessordnungsgemäß vorgetragen werden müssen. Es darf nichts verschwiegen werden, was für die korrekte Anwendung der Grundrechte wichtig gewesen wäre.
Insoweit spricht man auch von einer „grundrechtszugeschnittenen Sachverhaltsdarstellung“ im Instanzverfahren. Es reicht also nicht schon, überhaupt den Sachverhalt vorzutragen, sondern man muss dabei die Grundrechte immer im Hinterkopf haben. Alles, was für die Anwendbarkeit oder die Schutzwirkung von Grundrechten bedeutsam sein könnte, muss vorgetragen werden.
Das gilt übrigens auch in den Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, in denen also eigentlich das Gericht den Sachverhalt selbst ermitteln müsste. Die Beteiligten sind hier zwar prozessual nicht unbedingt verpflichtet, alle Tatsachen selbst in das Verfahren einzubringen. Verfassungsrechtlich kann ihnen dies aber später zum Vorwurf gemacht werden, wenn man annehmen kann, dass die Gerichte mit zusätzlichen Informationen möglicherweise anders entschieden hätten.
Diese Vortragspflicht hat das Bundesverfassungsgericht allerdings auch schon auf rechtliche Erwägungen ausgeweitet. Es hat in den 90er-Jahren entschieden, dass zur Subsidiarität gehört, dass man im Instanzverfahren „alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken“ und auch „die behauptete Grundrechtswidrigkeit im jeweils mit dieser Beeinträchtigung zusammenhängenden sachnächsten Verfahren geltend zu machen ist“ (BVerfG, 1 BvR 772/90, Rdnr. 14).
Neuere BVerfG-Rechtsprechung: Kein Grundrechtsvortrag notwendig
Später hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber aber klargestellt (1 BvR 684/98):
Es ist durch das verfassungsprozessuale Gebot der Erschöpfung des Rechtsweges (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) nicht gefordert, dass der Beschwerdeführer von Beginn des fachgerichtlichen Verfahrens an verfassungsrechtliche Erwägungen und Bedenken vorträgt.
Diese Aussage war anscheinend im Jahr 2004, als bereits ein halbes Jahrhundert lang Verfassungsbeschwerden durch das BVerfG entschieden wurden, noch so bedeutend, dass man ihr gleich einen Leitsatz gewidmet hat. Dies zeigt schon, dass das Thema alles andere als trivial ist.
In den Entscheidungsgründen dazu heißt es weiter (Rdnr. 38 und 39):
Der Beschwerdeführer kann sich im fachgerichtlichen Ausgangsverfahren regelmäßig damit begnügen, auf eine ihm günstige Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts hinzuwirken, ohne dass ihm daraus prozessuale Nachteile im Verfahren der Verfassungsbeschwerde erwachsen. Es ist Aufgabe der rechtsprechenden Organe, die durch Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind, das Klagebegehren auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, wenn der konkrete Rechtsstreit dazu Anlass gibt.
(…)
Es ist durch das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs nicht gefordert, dass der Beschwerdeführer bereits das fachgerichtliche Verfahren auch als „Verfassungsprozess“ führt
Nicht notwendig ist in aller Regel also – im Instanzprozess; im Verfassungsbeschwerdeverfahren natürlich schon – eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Grundrechten und ihren Auswirkungen auf den Fall. Erst recht muss nicht die gesamte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage wiedergegeben werden. Wenn alle bedeutenden Tatsachen mitgeteilt wurden, ist es Aufgabe der Gerichte, von Amts wegen Grundrechtsschutz zu gewähren und die Grundrechte bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.
Aber: Ausnahmen bei besonderer Bedeutung
Aber auch davon gibt es, wie praktisch immer in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Ausnahmen (Rdnr. 40):
Etwas anderes kann in den Fällen gelten, in denen bei verständiger Einschätzung der Rechtslage und der jeweiligen verfahrensrechtlichen Situation ein Begehren nur Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt werden.
Verfassungsrechtliche Darlegungen können auch veranlasst sein, wenn nach dem fachgerichtlichen Verfahrensrecht der Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels oder das Rechtsmittel selbst auf die Verletzung von Verfassungsrecht (…) zu stützen sind.
(…)
Es ist dann von seiner Seite das Erforderliche zu veranlassen, damit sich die Fachgerichte mit den verfassungsrechtlichen Aspekten des Falles auseinander setzen
Wenn also von vornherein klar ist, dass man im Ausgangsverfahren ohne grundrechtliche Argumentation keine Chance haben wird, dann muss man diese auch vorbringen. Und wenn man ein Rechtsmittel innerhalb des Instanzverfahrens auf Grundrechtsverletzungen aufbauen kann, dann muss man diese Möglichkeit nutzen. Hier gehört es dann natürlich zur ordnungsgemäßen Nutzung des Rechtsmittels, dass man die Grundrechtsausführungen auch korrekt vornimmt.
So erschließt sich auch wieder der oben angeführte Leitsatz des Bundesverfassungsgerichts: Der Bürger muss im Verfahren zwar nicht „von Beginn an“ auf seine Grundrechte hinweisen, aber unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt, wenn klar ist, dass er nur noch mit Hilfe der Grundrechte den Prozess gewinnen kann. Wird dies versäumt, kann eine spätere Verfassungsbeschwerde unzulässig sein.
Grundrechtlicher Vortrag ist ratsam
Aus diesen Erwägungen heraus ist es grundsätzlich sehr ratsam, auch die grundrechtliche Rechtslage schon im Instanzverfahren darzulegen:
- Zum ersten weiß man nie, wie das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde nun im Einzelfall auslegt. Es ist immer möglich, dass das Gericht der Ansicht ist, man hätte aus irgendwelchen Gründen in diesem konkreten Fall doch schon verfassungsrechtliche Ausführungen machen müssen. Die Rechtsprechung dazu ist, wie oben dargestellt, noch sehr im Fluss.
- Zudem sind das rechtliche Argumente, die durchaus dazu führen können, dass man den Rechtsstreit gewinnt. Wenn man deswegen erst gar keine Verfassungsbeschwerde braucht, ist das allein schon ein großer Vorteil.
- Außerdem kann man auf diese Weise das Gericht zu Fehlern „provozieren“. Wenn verfassungsrechtliche Argumente kommen, wird sich das Gericht damit auseinandersetzen und ggf. auch im Urteil dazu Stellung nehmen. Wenn es hier unzutreffende Ausführungen macht, kann die Verfassungsbeschwerde darauf aufgebaut werden.
- Schließlich bereitet man auf diese Weise die Verfassungsbeschwerde zumindest schon einmal vor. Man wird diese Argumente dann in die Verfassungsbeschwerdeschrift übernehmen können, muss also nicht „von null“ beginnen. Angesichts der knappen und nicht verlängerbaren Frist für die Verfassungsbeschwerde (ein Monat) ist das immer positiv.